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Am Hügel | Interview mit Constantin Satüpo

Hallo, Constantin! Danke, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns über dein erstes Buch im avant-verlag Am Hügel zu reden. Lass uns mit einer kleinen Einführung beginnen – wer bist du, wie sieht deine künstlerische Arbeit aus und was ist deine Verbindung zum Comic?

 

Hallo, ich bin ein Buchkünstler und Autor aus Berlin. Geboren und aufgewachsen bin ich in Moskau. Dort habe ich Buchkunst mit den Schwerpunkten Grafik und Illustration studiert und zunächst als Illustrator und Autor von Kinderbüchern begonnen (manchmal kehre ich auch gerne zu diesem Genre zurück). Im Jahr 2013 zog ich nach Berlin, wo ich an der Kunsthochschule Weißensee visuelle Kommunikation studierte. In dieser Zeit habe ich angefangen, mit dem Comic-Format zu experimentieren.

Mein Meisterprojekt, die Graphic Novel Ausblick aus dem Erdgeschoss, wurde mit dem Mart Stam Preis ausgezeichnet und mein Meisterschulprojekt Icheinhalb wurde vom Verlag „Warum?“ in Frankreich unter dem Titel Rendez-Vous à Moscou. Boris Eltsin, les filles, le rock (et moi) veröffentlicht. Im Jahr 2019 erhielt ich ein 6-monatiges Aufenthaltsstipendium an der Cité Internationale des Arts in Paris, um an einem Projekt zu arbeiten, aus dem schließlich das Buch AM HÜGEL wurde. Das Comicmedium ist für mich derzeit das interessanteste und tiefgründigste Format, weil ich auf diesem Feld sowohl mit Grafiken als auch mit Texten experimentieren kann.

 

Am Hügel ist ein Buch, das die offene Crackszene am nördlichen Stadtrand von Paris beleuchtet. Du portraitierst fünf fiktionalisierte Bewohnener*innen dieses Brennpunkts, und warst auch selbst vor Ort, um Material zu sammeln. Keine leichte Kost. Wie bist du auf das Thema aufmerksam geworden und was hat dich dazu bewegt, selbst nach Paris zu reisen, um die Situation vor Ort mit eigenen Augen zu sehen?

 

Ich hatte mich schon lange für die Drogenszene interessiert. Zwischen den 90er und 2000er Jahren konnte ich die Heroinkrise mit eigenen Augen beobachten. Ich habe die katastrophale Degradation einiger Freunde und Bekannten miterlebt, die Drogen konsumierten. Später interessierte ich mich für Schadensminimierung und habe mehrere Spezialisten auf diesem Gebiet kennengelernt, darunter auch einige aus Frankreich. Als ich die Gelegenheit hatte, nach Paris zu fahren, kam mir als Erstes in den Sinn, eine Reportage über dieses Thema zu machen. Als ich dort war, sagten alle einstimmig, dass das heißeste Thema gerade ist: „Colline du Crack“ (der „Crack-Hügel“). Also begann ich, diesen Brennpunkt und das Problem dahinter zu erforschen. Dieser Ort am nördlichen Stadtrand von Paris war tatsächlich eine echte Sozial- und Sanitätskatastrophe. Neben dem eigentlichen Crack-Lager befand sich in unmittelbarer Nähe auch ein großes Flüchtlingslager, und die beiden Gruppen begannen sich zu vermischen.

 

Die Recherchearbeit in einem Drogen-Hotspot ist eine Aufgabe, die viel Feingefühl und die richtigen Kontakte erfordert. Wie bist du bei der Recherche vorgegangen?

 

Wie sich herausstellte, waren mehrere meiner Pariser Bekannten auf die eine oder andere Weise in diese Situation verwickelt. Das erste Mal war ich mit meinen Freunden aus der Organisation „Solidarité Migranten Wilson“ an diesem Ort. Damals verteilten sie dort warme Mahlzeiten an Migranten und Obdachlose. Als Freiwilliger habe ich mit dieser Organisation zusammengearbeitet und mitgeholfen, warmes Essen zu kochen und zu verteilen. Dort habe ich viele Leute mit ihren Schicksalen und Geschichten getroffen.

Meine weiteren Kontakte waren mit der Crack-Konsumhalle an der Porte de la Chapelle verbunden, wo die Besucher schlafen, duschen, Wäsche waschen und einen Arzt aufsuchen können. Diesen Ort habe ich einige Male besucht. Dort habe ich einen jungen Mann gesehen, der etwas vor sich hin murmelte, seinen Rap probte. Außerdem versuchte ich, jede freie Zeit diesen Bezirk und auch andere Brennpunkte von Paris zu erkunden, um Leute zu beobachten, Fotos und Skizzen zu machen.

Ich habe auch eine große Anzahl von Artikeln gelesen, sowohl wissenschaftliche als auch journalistische, und wirklich viele Videoreportagen von dort geschau. Vieles davon war sehr hilfreich.

 

In deinem Erzählstil kombinierst du verschiedene Genres – Fiktion und Reportage in einer nahtlosen Verbindung. Und dann ist da natürlich auch noch der Rap! Wie hast du in der Konzeption entschieden, welcher Teil an welcher Stelle überwiegen darf? Welche Parts sind eher fiktional, bei welchen hast du dich mehr an das reale Vorbild gehalten?

 

Zuerst dachte ich über ein Reportagenprojekt nach. Meine ersten Arbeitsseiten waren Skizzen einiger Szenen, die ich gesehen hatte. Darüber hinaus wollte ich den Ort selbst zu einem der Protagonisten machen. Dann dachte ich, ich bräuchte eine Art Geschichtenerzähler oder Hauptfigur und es müsste mehrere davon geben. Und so kam im Buch der Rapper (Dichter) ins Spiel.

Einer meiner Kollegen schaute sich meine Skizze mit dem Rapper an und sagte: „Das ist wie der Chor in einer antiken griechischen Tragödie …“ – Genau! Alles begann sich von selbst zu einer Geschichte zu entwickeln. Ich habe die Charaktere genauer durchdacht, als mir klar wurde, dass die Geschichte einen größeren Umfang bekommt (also mehr als eine Sammlung von Kurzreportagen wird) und begann, mehr mit den Hauptfiguren zu arbeiten. Ich wollte das Gefühl vermitteln, wie es ist, wenn man sich zum ersten Mal dort in „Colline du Crack“ befindet. Ich habe mich dennoch dafür entschieden, am Ende alle am Leben zu lassen, obwohl das Ende offen ist.

Ich würde sagen, dass fast alle Ereignisse auf die eine oder andere Weise an das reale Vorbild gebunden sind. Ich habe versucht, sehr vorsichtig mit der Geschichte umzugehen. Ich habe meine Ideen sogar mit Expert*innen über-

prüft, die sich mit diesem Thema bestens auskennen. Und jedes Mal erhielt ich die Antwort: „Da ist eigentlich alles viel schlimmer.“ Natürlich ist die Geschichte mit den verlorenen Heften komplett von mir erfunden, obwohl ich mir dort schon das Vorhandensein solch eines Notizbuchs abgeschaut habe.

 

Mit Reimen und Sprechgesang über gesellschaftliche Missstände zu erzählen, prägt die Musikrichtung schon seit ihrer Entstehung. Warum hast du dich dazu entschieden, den „Dichter“ in deiner Geschichte rappen zu lassen? Bist du über deine Arbeit selbst zum HipHop-Textebastler geworden?

 

Wie du schon gesagt hast, passt es sehr, mit Rap über gesellschaftliche Missstände zu erzählen. Als ich gesehen habe, wie der Typ im Crack-Hilfezentrum vor sich hin murmelte, dachte ich sofort, dass ich das in meinem Buch benutzen muss. Ich erinnerte mich auch an die Eröffnungsaufnahmen des Gus Van Sant-Films „Findet Forrester“. Ich wollte das in einem Comic verwenden. Ich wollte schon immer irgendwie Musik in den Comic integrieren – wie es auch in Filmen passiert. Unmöglich? Bis vor Kurzem hatte ich Angst, dass das nicht funktionieren könnte. Dabei hat mir meine geniale Freundin Mira Schiffer geholfen. Deutsch ist nicht meine Muttersprache und ich wäre nie so brillant im Reimen. Ich habe nur angegeben, worum es in diesem Moment gehen sollte. Aber mal schauen, wahrscheinlich sollte ich bei meiner Buchlesung selbst freestylen.

 

Auch durch die Farbgebung und die nebligen, verwaschenen Bilder wird die Atmosphäre der rauen Schauplätze in Paris quasi durch das Papier hindurch spürbar. Wie hast du deine vor Ort angefertigten Skizzen in die finalen Bilder verwandelt?

 

Du hast völlig recht, ich habe versucht, das Gefühl zu vermitteln, dass man an den rauen Orten vom kalten Paris hat. Ich habe versucht, mit den Charakteren zu beginnen, aber als ich anfing, die Peripherique-Überführungen zu zeichnen, passte alles gut zusammen. Kalter Beton. Darüber hinaus wollte ich dies wie aus der Ferne oder vielleicht durch eine versteckte Kamera beobachtet vermitteln, ein wenig unscharf und neblig, nur um manchmal näher an die Protagonisten heranzukommen.

 

Im Buch thematisierst du auch die Arbeit von Hilfsorganisationen, insbesondere Einrichtungen und Angebote für Konsumierende. Haben die Besuche in diesen Einrichtungen und Gespräche mit dem Personal deine Perspektive auf die Problematik der Drogenpolitik in Paris verändert?

 

Tatsächlich waren bei meinen Besuchen in den Hilfseinrichtungen weniger die Probleme der Drogenpolitik oder die Häufung der Problembezirke in Paris vordergründig, sondern ganz allein die Menschen und ihre Schicksale! Die Art und Weise, wie man diese Dinge betrachtet, verändert sich enorm, wenn man eine Person und nicht nur ein Problem sieht. Nachdem man das ganze Chaos im Norden von Paris erlebt hat, sieht man jetzt nur noch echte Menschen. Das ändert den Blick auf die Dinge.

Meiner Meinung nach ist der erste Schritt zur Hilfe für Drogenkonsument*innen, dafür zu sorgen, dass sie die Möglichkeit auf Zugang zu menschlichen Grundbedürfnissen wie Toiletten, Dusche, saubere Wäsche und eine medizinische Grundversorgung nicht verlieren. Das ist nicht alles, aber es ist ein großer Schritt, um es den Menschen zu ermöglichen, nicht ganz unten zu landen und Schritt für Schritt in ein normales Leben zurückzukehren.

 

Zwar wurde die Crack-Siedlung an der Porte de la Chapelle Ende 2019 von der Polizei in Paris geräumt, das Drogenproblem im Paris ist aber nach wie vor aktuell. Über die Pandemie soll die Zahl der Suchtabhängigen sogar noch gestiegen sein. Was möchtest du, dass wir Lesenden uns aus deinem Buch mitnehmen? Wen hattest du als Leser*in im Sinn – Menschen, die sich schon ein bisschen mit der Thematik auskennen oder solche, die noch keine Berührungspunkte damit hatten?

 

Sogar unmittelbar nachdem „Colline du Crack“ an der Porte de la Chapelle Ende 2019 geräumt wurde, löste sich das Problem überhaupt nicht. Die meisten Bewohner*innen des Lagers sind einfach 500 Meter entlang der Péferique zum Porte d‘Aubervilliers umgezogen, wo ich die meisten meiner Recherchen durchführte. Nach der Räumung dieses Lagers Anfang 2020 wurde die Gegend um den Place de Stalingrad zum Problemgebiet. Dort habe ich sehr junge Leute, vielleicht sogar Schulkinder, gesehen, die Crack konsumierten. Vielleicht war das nur der Anfang. Ich war während der Pandemie nicht mehr in Paris, aber es scheint mir, dass es für so junge Menschen zu einer Katastrophe hätte werden können. Außerdem habe ich gehört, dass Crack-Probleme bereits auch in Berlin angekommen sind.

Trotz meiner tiefen Beschäftigung mit dem Thema Crack-Szene und Schadensminimierung möchte ich sagen, dass es sich bei meinem Buch in erster Linie um ein Kunstprojekt handelt und es sich vor allem an Fans alternativer Comickunst, Grafik und vielleicht Literatur richtet. Es wäre aber sehr gut, wenn wenn ich bei Leser*innen das Interesse für soziale Themen wie Drogenpolitik und darüber hinaus das Schicksal von Sexarbeiter*innen und Geflüchtete wecken könnte.

 

Wir bedanken uns für das interessante Gespräch.

 

Am Hügel ist seit April 2024 erhältlich.