Hallo Anneli, vielen Dank, dass du dir die Zeit für uns nimmst! Magst du uns zum Start ein bisschen was über dich und deinen Comic-Werdegang verraten?
Ich bin eine schwedische Comiczeichnerin und arbeite hauptsächlich an meinen eigenen Büchern, illustriere aber auch für andere Autor*innen. Angefangen habe ich als Malerin. Nach meinem Master in bildender Kunst habe ich recht schnell damit angefangen, an Comics zu arbeiten. Ich denke das lag daran, weil ich schon immer gerne schreiben wollte, und als ich realisiert habe, dass man für Comics gleichzeitig schreiben und zeichnen kann, hat sich das für mich angefühlt wie nach Hause zu kommen. Es hat nicht lange gedauert und mein erstes Buch ist erschienen, inzwischen habe ich zehn Comics veröffentlicht. Die meisten sind in andere Sprachen übersetzt worden, wie Französisch, Englisch, Deutsch oder Finnisch.
Im März 2024 erschien dein Buch Roter Winter als deutsche Übersetzung im avant-verlag. Es spielt im Schweden der 1970er Jahre und fängt die politische Situation der damaligen Zeit ein. In diesen Jahren erlebte Schweden nach langer sozialdemokratischer Regierung einen politischen Wandel, geprägt von einer Radikalisierung linker Parteien. In dieser Szenerie lernen wir die Beziehung zwischen Ulrik, einem linksradikalen Aktivisten und Siv, einer verheirateten Mutter mit drei Kindern, kennen. Warum hast du dich für dieses Setting entschieden?
Ich bin im Norden von Schweden aufgewachsen, die nördlichen Regionen sind oft ein Teil meiner Geschichten. Roter Winter handelt von einer Zeit, an die ich mich sehr gut erinnern kann, auch wenn ich damals ziemlich jung war (Ich bin 1962 geboren). Ich hatte ältere Freunde, die sich in linksradikalen Gruppen engagierten und war damals ziemlich von ihnen beeindruckt. Später begann ich, über die absurden Situationen und Ideen nachzudenken, von denen ich in meiner Jugend gehört und die ich manchmal auch selbst erlebt hatte. Ich wollte darüber schreiben und zeichnen, wie bestimmte Überzeugungen und Ideen Menschen dazu bringen können, sehr seltsame Dinge zu tun, manchmal sogar sehr schlimme Dinge, und wie sich das auf das eigene Leben und das von anderen auswirken kann.
Kannst du uns ein bisschen was über Siv und Ulrik erzählen? Wir als Lesende treffen die beiden mitten in ihrer Affäre, in der sie schon Gefühle füreinander haben – wir wissen nicht, wo und wann sie sich kennengelernt haben und warum sie sich ineinander verliebt haben. Hast du da ein paar Antworten für uns?
Ich bin mir gar nicht sicher, wie sie sich kennengelernt haben! Ich habe die Geschichte mehrere Male neu angefangen und jedes Mal versucht, viele Dinge zu erklären. Das hat nicht wirklich geklappt, also hab ich mich dazu entschieden, dass nicht mal ich es weiß – das hat den Schalter umgelegt und die Story kam ins Laufen.
Eine gute Vermutung ist jedoch, dass beide sehr einsam waren. Ulrik, weil er von seiner Partei in einer Stadt mitten im Norden Schwedens untergebracht wurde und seine Genossen nicht wirklich seine Freunde waren. Und Siv, weil alle Mitglieder in ihrer Familie in ihren eigenen Welten lebten und sie nicht wirklich jemandem zum Reden hatte.
Sowohl in Roter Winter, als auch in deinem nachfolgenden Buch Bring mich noch zur Ecke geht es um das Neuerfinden im fortgeschrittenen Alter. Das ist für gewöhnlich ein Abschnitt im Leben, in denen sich die meisten Menschen durch langjährige Partnerschaften, Kinder oder ein gekauftes Haus meist in eher gefestigten Strukturen befinden. In beiden Büchern brechen die Charaktere durch eine neue Liebesbeziehung aus genau diesen Strukturen aus, ohne zu wissen, was danach kommt.
Was interessiert dich an diesen Beziehungsdynamiken und schwierigen Entscheidungen? Wo liegen in dieser Hinsicht die Parallelen von Siv aus Roter Winter und Elise von Bring mich noch zur Ecke? Und wo siehst du die Unterschiede zwischen diesen Charakteren?
Ich würde Siv mit 37 Jahren nicht wirklich als „alt“ bezeichnen. Aber trotzdem verläuft ihr Leben auf eine Art und Weise, die meiner Meinung nach in den 1970ern sehr üblich war. Gerade dadurch, dass sie so früh Mutter geworden ist. Ich denke, Siv ist den Weg im Leben gegangen, den andere für sie gewählt haben, die Gesellschaft, ihre Eltern, ihre Verwandten, die Zeiten damals. Vielleicht hatte sie gerade damit angefangen, selbst über Themen wie beispielsweise der Frauenbefreiung nachzudenken. Nordschweden war eine Männerwelt damals, vor allem in einer Stadt, die von der Stahlindustrie geprägt war, wie die in Roter Winter.
Elise ist anders. Sie ist älter, um die 56-57 und ihre Geschichte spielt in den 2020er Jahren. Elise führt eine glückliche Ehe, wie sie es nennt. Sie ist zufrieden, zumindest glaubt sie das. Sie fühlt sich wohl in ihrem Haus, in ihrer Ehe und der Elternrolle. Für Elise ist die Begegnung mit Dagmar eine Art Zufall. Sie sagt, sie hat es nicht kommen sehen, aber später findet sie heraus, dass das nicht aus heiterem Himmel kam.
Es gibt einen berühmten Spruch aus der Studentenbewegung: „Das Private ist politisch und das Politische ist privat.“ In Roter Winter wird dieser Spruch böse Realität, als Ulriks politischer Aktivismus von seinen maoistischen Genossen gegen seine Beziehung zu Siv ausgespielt wird. Es scheint, als gäbe es in der Politik dieser Zeit kaum Platz für Glück und persönliche Freiheit. Kannst du uns diesen Aspekt deiner Geschichte erklären?
Wie ich schon gesagt habe, finde ich die Tatsache, dass normale, anständige Menschen verrückte oder sogar böse Dinge tun können, wenn sie einer starken Überzeugung oder Glauben folgen, sehr spannend. Es ist wirklich beängstigend. Ich denke, dass einige Teile der linksradikalen Bewegung in den 1970ern damals eher wie eine Religion waren, mit sehr engagierten Anhängern. Der Zweck der Bewegung wurde größer als alles andere angesehen. Persönliche Freiheit und Liebe waren Privatsachen, die man beiseite schieben sollte. Natürlich erleben wir diese Abläufe auch heute immer wieder, in verschiedenen Glaubensrichtungen und Gemeinschaften und mit schrecklicheren Folgen als in Roter Winter. Für mich war das das erste Mal, dass ich das mit eigenen Augen gesehen habe, wenn auch zum Glück aus einiger Entfernung.
Roter Winter spielt – wie der Name schon sagt – in den Wintermonaten von Schweden, in denen die Tage kurz und die Nächte lang und dunkel sind. Du verwendest vor allem Blau- und Orangetöne, um die Geschichte zu unterstreichen. Kannst du uns ein wenig über die Verwendung von Farben in deinem Buch erzählen, und wie du Licht und Dunkelheit einsetzt?
Das Licht im Norden ist in all meinen Arbeiten sehr wichtig. Es wirkt sich einfach auf alles aus, auf die Landschaft, die Städte und die Menschen. In Roter Winter wollte ich das fehlende Licht während der Winterzeit zeigen, also musste das Licht hauptsächlich von Straßenlaternen kommen, die den Schnee türkis machen, oder von Zimmerlampen, die alles orange tönen. Ich verwende auch Spiegelungen in Fenstern, wenn es draußen dunkel ist und man nur das sieht, was von drinnen reflektiert wird. Das ist Winter für mich.
In anderen Büchern von mir ist das Gegenteil der Fall: Die Mitternachtssonne und die Sommernächte, in denen man nirgendwo einen Fleck Dunkelheit findet – zum Beispiel in Närmare kommen vi inte (übersetzbar mit „So nah dran wie möglich“), ein Buch, das ich mit der norwegischen Autorin Monika Steinholm gemacht habe. Ich komme immer wieder zurück zu den verschiedenen Lichtphänomenen im Norden.
Zum Schluss noch eine Frage zur Art und Weise, wie du deine Geschichten enden lässt – in Roter Winter hört der Plot an der Stelle auf, an der die Veränderungen im Leben der Protagonist*innen losgetreten werden. Wir als Lesende wissen nicht, was mit Ulrik passiert, auch Siv’s Schicksal ist zur Interpretation offen. Wo fühlt es sich für dich als Erzählerin richtig an, eine Geschichte zu beenden? Und ist das unterschiedlich dazu, wie du als Lesende das Ende von Büchern wahrnimmst?
Tja, ich glaube ich neige dazu, offene Enden in meine Bücher einzubauen. Ich weiß oft nicht, wohin eine Geschichte mich führt, wenn ich anfange zu schreiben und zu zeichnen. Ich finde Enden schwierig. Auf einmal, wenn ich an einem Comic arbeite, erscheint irgendwann das Ende. Es ist wie ein „Aha-Moment“. Als Leserin frustriert es mich manchmal, wenn ich Bücher mit offenen Enden lese, und trotzdem nutze ich sie bei meinen eigenen Geschichten! Es ist so, als ob ich nicht anders kann!
Vielleicht liegt es daran, weil das Leben auch oft offene Enden hat.
Wir bedanken uns für das interessante Gespräch.