Liebe Hannah, wie schön, dass du dir ein wenig Zeit nimmst, um uns ein paar Fragen zu beantworten. Magst du uns ein bisschen was zur Entstehung der Graphic Novel Zeit heilt keine Wunden erzählen? Wie bist du zum Beispiel auf das Thema gestoßen?
Es fing an mit einem Anruf von Mirjam Zadoff, die schon lange eine grafische Biografie über Ernst Grubes Leben erarbeiten wollte. Auch Ernst selber ist sehr interessiert daran, neue Wege zu finden, seine Zeitzeugenschaft zu bewahren. Er erschien bereits als Hologramm, in einem VR Video und zahlreichen Dokumentationen und Filmen. Essenziell für so eine nahe und intensive Zusammenarbeit war natürlich, dass Ernst und ich uns verstanden. Das funktionierte sofort, nicht nur auf zwischenmenschlicher Ebene. Wir hatten auch ähnliche Vorstellungen für den Fokus der Geschichte. Ernst redet als Zeitzeuge an Schulen meist über seine Verfolgung im Nationalsozialismus. Dass er auch in der jungen BRD verfolgt wurde, nämlich als Kommunist, kommt selten zur Sprache. Das hat einerseits mit einer Stigmatisierung des Themas zu tun, die sich bis heute durchzieht. Ernst wurde beispielsweise vorgeworfen, dass er seine Zeitzeugentätigkeit dazu missbrauche, junge Menschen an Schulen mit seiner kommunistischen Ideologie zu indoktrinieren. Andererseits hängt das auch mit dem Narrativ zusammen, dass nach 1945 alles vorbei war und sich zum Guten wandte: Die Diktatur war besiegt, die Demokratie wurde etabliert. Das ist natürlich nur bedingt wahr. Es war ein langer Prozess, bis die alten NS-Kräfte und mit ihnen ihre Ideologien aus der bundesdeutschen Beamtenschaft austraten (manche, weil sie herausgebeten wurden, die meisten, weil sie in Rente gingen). Teilweise findet man ihre Spuren aber bis heute in unserer Gesellschaft, unseren Denkmustern und unserem politischen System wieder. Ernst und mir war es wichtig, die Verfolgung in der Bundesrepublik der 50er Jahre herauszuarbeiten. Schon bevor ich Ernst kennenlernte, wollte ich eine Geschichte über die NS-Kontinuitäten in der Justiz erzählen. Nahezu alle NS-Richter und Staatsanwälte durften ihre Karrieren nahtlos in der BRD fortsetzen. Dass auch diese Kontinuitäten ein Grund dafür waren, dass Kommunisten mit einer solchen Brutalität und Vehemenz verfolgt wurden, liegt auf der Hand. Exemplarisch dafür steht die Parallelgeschichte des Richters Kurt Weber, der ein Karrierist, ein Opportunist ist, der seine beruflichen Ziele über seine politische und moralische Integrität stellt und das auch nach dem Krieg weiter praktiziert. Er ist der vorsitzende Richter in dem Verfahren vor dem Bundesgerichtshof, in dem Ernst 1959 zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt wird, weil er Flugblätter gegen das bereits vollzogene KPD Verbot von A nach B transportiert.
Wie ist der Kontakt zu Ernst Grube entstanden und wie verlief eure Zusammenarbeit?
Ernst und ich haben sehr eng zusammengearbeitet. Ich war bei ihm und seiner Frau Helga Hanusa in Regensburg zu Besuch, wir haben uns in München im Stadtarchiv getroffen, ich habe mit Helga und Ernst im Sommer Zeit am Chiemsee verbracht. Während der Arbeit an dem Buch hatten wir zahlreiche Gespräche und sind die unterschiedlichen Passagen im Buch immer wieder durchgegangen, damit Ernst Grube (2019) sich und seine Geschichte richtig wiedergegeben und dargestellt sieht. Ganz wichtig war Ernst auch das von ihm Gesagte. Er hat lange mit Formulierungen gerungen. Ich habe das als sehr bereichernd empfunden, da Ernsts Stimme so wirklich wiedergegeben werden konnte und es nicht ausschließlich durch den Filter meines Schreibens ging. Es war unglaublich berührend, mit ihm sprechen zu dürfen. Und es gab auch für mich immer wieder Momente der Sprachlosigkeit angesichts dessen, was Ernst erlebt hat.
Du hast gewisse historische Orte, zum Beispiel die ehemalige Urlaubsvilla von Joseph Goebbels, die später die Jugendhochschule Wilhelm Pieck war, gezeichnet. Wie bist du bei der Recherche für deine Zeichnungen vorgegangen?
Ich war am Bogensee, in Theresienstadt und natürlich mehrfach in München zur Recherche vor Ort. Ich habe aber auch einige Archive besucht, wie das Staatsarchiv in Berlin Lichtenrade, wo die Akten zur Jugendhochschule Wilhelm Pieck aufbewahrt sind. Dort konnte ich alle Lehrpläne einsehen, aber auch Notizen und Vermerke der Lehrerschaft, in denen Ernst teilweise auch erwähnt wurde. Klassenlisten, Lehrmaterial, Freizeitaktivitäten, alles war dort vermerkt. Genauso aber auch Baupläne und Material, das mir half den Ort zu rekonstruieren, denn beispielsweise die Baracken, die zu Ernsts Zeit noch standen, stehen heutzutage nicht mehr. In Theresienstadt habe ich versucht nachzuempfinden, wie sich dieser Ort angefühlt haben muss, als Ernst dort gewesen ist, das fiel mir allerdings sehr schwer. Heute ist es eine halb verfallene Stadt, in der dennoch Leben herrscht, die alten Ghettohäuser sind heute Wohnungen, Kioske oder Restaurants. Der Leerstand wirkt geistern und die Vergangenheit schimmert durch, aber man kann sich einfach die Lebensumstände kaum vorstellen, auch nicht durch die zwei Museen, die es dort gibt. Hier habe ich natürlich mit Ernsts Erzählungen, dem Gefühl alleine zu sein, dem ständigen Hunger und den traumatischen Dingen, die er sehen musste, gearbeitet. Aber auch mit der Kunst, die die Insassen von Theresienstadt produzierten und versteckten. Wahrscheinlich eine der ehrlichsten Darstellungen dieses Ortes, sie transportieren in Teilen den Schrecken und die Stimmung besser als jedes Foto. Gleichzeitig habe ich mich hier auch stark an Abstraktionen gehalten, an gefühlte Bilder. Kurt Webers Geschichte auf der anderen Seite ist komplett aus Akten erarbeitet. Seinen Spruchkammerakten und Personalakten in Karlsruhe, seinen NS-Personalakten in Stuttgart und Zeitungsarchiven in Mannheim. Daher ist hier natürlich auch viel mehr Fiktionalisierung und Interpretationsspielraum im Erzählen der Geschichte benutzt worden, auch wenn seine Geschichte ausschließlich auf den Akten und dem historischen Material basiert.
Das Erstarken der Rechten schreitet immer weiter voran. Umso wichtiger ist es in solchen Zeiten auf die Vergangenheit zu zeigen. Was hast du aus der Arbeit mit Ernst Grube für dich persönlich mitgenommen?
Ich habe durch Ernst ein ganz neues Bild davon bekommen, was politisches Engagement bedeuten kann. Ernst hat sein ganzes Leben für das gekämpft, was er für richtig hält. Er ist überzeugt, dass jeder Mensch gleich viel wert ist. Unabhängig von seiner Herkunft, Hautfarbe, Religion oder politischen Haltung. Ich finde das besonders bewundernswert in einer Zeit, in der viele vergessen, politische Verantwortung zu übernehmen.
Der erste Teil des Buches zeigt durch die Gesetzte und Erlasse der Nazis, dass jeder und jede gewusst haben muss, was die Nazis planen. Von Anfang an war die menschenverachtende Rhetorik vorhanden, man hätte ahnen können, worauf diese gesetzlich gesteuerte Diskriminierung hinausläuft. Die Nazis selber haben es ja schwarz auf weiß abgedruckt. Das zeigt deutlich, dass wir uns immer wieder bewusst machen müssen, was in unseren politischen Systemen passiert. Gerade wenn es darum geht, struktureller Diskriminierung politischen Mut und gesellschaftliches Entsetzen entgegenzusetzen. Ernst blickt auf ein Leben zurück, in dem er aufgrund seines politischen Engagements schweren Repressionen ausgesetzt war. Er war zweimal im Gefängnis, er wurde verfolgt, vom Verfassungsschutz beobachtet und zu Lebzeiten von Institutionen mit Misstrauen betrachtet. Trotzdem hat er weitergemacht. Und er ist bis heute als Zeitzeuge aktiv, sensibilisiert uns für die Geschichte und zeigt, dass jeder von uns seinen Teil zu einer gerechten Gesellschaft beitragen kann. Mit Blick auf die Vergangenheit zeigt er uns, wohin eine systematische Entmenschlichung im schlimmsten Fall führen kann und dass wir die Augen offenhalten müssen, um nicht zu übersehen, wohin Radikalisierungen führen können. Wir haben jetzt das große Privileg auf die Vergangenheit zu blicken und aus ihr zu lernen zu dürfen. Die Geschichte sich wiederholen zu lassen, ist dagegen fahrlässig.
Vielen Dank für das Gespräch, abschließend wüssten wir gerne noch, ob es schon weitere Projekte gibt, auf die sich deine Leser*innen freuen können?
Ich freue mich sehr, dass im kommenden Frühjahr WIE GEHT ES DIR? COMICS GEGEN ANTISE-
MITISMUS, HASS UND RASSISMUS als Anthologie im avant-verlag erscheint. Das Projekt liegt mir sehr am Herzen und entstand als Reaktion auf den grauenhaften Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem seitdem wütenden, zerstörerischen Krieg in Gaza und nun im Libanon. Ich bin eine der Inititator*innen des Projekts, mit Barbara Yelin, Birgit Weyhe, Moritz Stetter, Nathalie Frank, Michael Jordan, Veronique Sina und
Annika Gloystein und Bodo Birk vom Kulturamt Erlangen. Wir haben über 60 gezeichnete Dialoge veröffentlichen können, die sehr berühren. Zahlreiche deutschsprachige Comiczeichner*innen haben mitgemacht und mit unglaublich spannenden und mutigen Dialogpartner*innen gesprochen. Auch ich bin mit zwei Comics vertreten. Ich habe ein Gespräch mit meiner israelischen Tante Ronit führen dürfen, die mit ihrer Familie in London lebt, und mit Dervis Hizarci von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, der mit Jugendlichen gegen Stigmatisierung und Vorurteile arbeitet.
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